Der letzte Treck

 

 

 

Eines der verbreitetsten Wesensmerkmale aller Beamten des Auswärtigen Dienstes ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie annehmen, der Ort ihrer jeweiligen Tätigkeit sei der Mittelpunkt des Universums. Solange sie sich dort befinden, sind seine Probleme weit wichtiger als die irgendeines anderen Ortes. Im State Department wird dieser Geisteszustand »Localitis« genannt, und seine Opfer werden gewöhnlich mit wohlwollender Nachsicht behandelt.

Als ich in Kabul eintraf, wütete in Europa, Asien und Afrika der Krieg. El Alamein, Stalingrad, Casablanca und Teheran eroberten sich je eine kurze Zeit lang die Schlagzeilen der Presse, aber nachdem ich einen Monat dagewesen war, erkannte ich klar, daß diese wenigen Sekunden weltweiter Bedeutung doch sehr vergänglich waren und daß die Zukunft der Menschheit eigentlich nur von dem bestimmt werden würde, was in Afghanistan hinter Khaiber-Paß und Oxus geschah. Gewiß konnten Kabuls Probleme manchmal nicht welterschütternd aussehen, aber ich nahm dann bereitwilligst an, daß hier der Schein trog. Hin und wieder kam es auch vor, daß das State Department die lebenswichtige Bedeutung der afghanischen Innenpolitik oder den entscheidenden Wert der Gesandtschaft in Kabul nicht voll zu erkennen schien. Dies wurde besonders augenscheinlich, als das State Department — nachdem ich sechs Monate lang dringend telegrafisch um eine Schreibmaschine gebeten hatte — mir freundlicherweise einen Wasserkühler schickte.

Als ein einheimischer kultureller Verein mit der Bitte an mich herantrat, ihn doch mit den allemötigsten Ausrüstungsgegenständen für eine in Afghanistan zu gründende Laientheaterbewegung auszustatten, arbeitete ich mühsam und sorgfältig eine genaue Bedarfsliste aus. Zuerst hatte ich versucht, diese Arbeit von der Gesellschaft selber erledigen zu lassen, doch bemerkte man sehr richtig, daß ich von dergleichen entschieden mehr verstünde. Wir in Amerika hatten Theater. Sie hatten niemals eines gehabt. Die einzigen Requisiten, die sie von sich aus für unumgänglich notwendig erachteten, waren:

Perücken (sortiert),

Geräusche (sortiert, besonders für Gewitter und Kanonenschießen),

Kostüme (sortiert),

Kulissen (sortiert).

Sie gaben jedoch nach einigem Zögern zu, daß die letzteren beim Transport reichlich platzraubend sein mußten. Da Schiffsraum zur Zeit nur für teuerstes Geld zu haben war, meinten sie, es genüge wahrscheinlich, wenn Washington nur Anweisungen zum Herstellen von Kulissen schickte. Ich sandte die Liste mit der ausdrücklichen Bemerkung ein, daß die Bitte im Interesse der Unterstützung kulturell rückständiger Gebiete vordringlichst erfüllt werden möge. Eine Antwort habe ich nie erhalten.

Das gleiche geschah, als der Rundfunksender mich um eine Uhr mit demselben Glockenspiel wie dem des Big Ben bat, welche aber die Stunden nach der Sonnenzeit schlagen sollte. Da diese Bitte eine kurze Erläuterung zu fordern schien, fügte ich meinem Schreiben noch eine historische Fußnote bei.

In der guten alten Zeit, vor der Regierung des gegenwärtigen Königs Sehir Khan, hatten die Mullahs das Land beherrscht — und zwar so ausschließlich, daß sogar die Tageszeiten einzig und allein von ihnen verkündet wurden. Eines der Überbleibsel ihrer Herrschaft war die Tatsache, daß in Afghanistan noch bis zu meiner Ankunft die Sonnenzeit gebräuchlich war. (Die Differenz zwischen Sonnen- und Normalzeit ist den meisten unbekannt und ist auch im allgemeinen nicht von Bedeutung — außer wenn man gerade die Sechs-Uhr-Kurzwellen-Nachrichten von New York zu hören versucht. In diesem Falle kann es sich unangenehm bemerkbar machen, wenn die Uhr vielleicht zehn oder zwanzig Minuten vorgeht.)

In jenen alten Tagen wurde die Zeit in Kabul durch den Mittagsschuß von der Festung angegeben. Die genaue Mittagszeit festzustellen war das Vorrecht des Obermullah, der zu diesem Zwecke im Hof der Hauptmoschee eine Sonnenuhr aufstellen ließ. Näherte sich die Sonne dem Zenit, so hatte sich einer der niederen Mullahs vor die Uhr zu hocken und die weitere Entwicklung abzuwarten. Kreuzte der Schatten die Mittagsmarkierung, so erhob sich der Untermullah mit geziemender Würde von seinen Knien, wickelte seine weißen Gewänder malerisch um sich und eilte zum Telefon. Es erforderte nur eine bescheidene Kraftanstrengung und ganz wenig Zeit, das Telefon anzukurbeln und den Telefonisten zu wecken, der seinerseits wiederum infolge langer Übung das Telefon der Moschee mit dem der Festung mit einem bloßen Minimum an Verzögerung verbinden konnte.

Sehr oft war der Offizier vom Dienst beim Anruf des Mullah im Wachraum. Wenn nicht, war es nur eine Sache weniger Minuten, ihn vom Ruhebett in seinem Quartier hochzujagen und ans Telefon zu bringen. Daraufhin erteilte ihm der Mullah die Erlaubnis, seinen Mittagsschuß abzufeuern. Der Festungswache war ein für allemal befohlen, sich, sobald die Sonne höher stieg, auf oder am Geschützstand einzufinden und die alte Haubitze mit Pulver zu laden, sobald sie des Offiziers ansichtig würde. Und erst dann, wenn alles korrekt vorbereitet war, gab der Offizier das ersehnte Signal, ein Streichholz wurde an die Zündschnur gehalten, die Ladung bollerte los, und die Einwohner Kabuls stellten ihre Chronometer eiligst auf Punkt zwölf Uhr. Was bei bedecktem Wetter geschah, habe ich leider nie herausfinden können.

 

Als ich das State Department einmal um eine größere Menge Aspirin-Tabletten bat, reagierte es umgehend mit dem Hinweis, daß die geforderte Menge ausreiche, die gesamte Bevölkerung Afghanistans für die nächsten fünfundzwanzig Jahre kopfschmerzfrei zu halten.

 

Neben dieser Hauptbeschäftigung, Afghanistan mit kulturellen, chronometrischen, pharmazeutischen und weiteren lebenswichtigen Dingen zu versorgen, blieb immer noch ein kleines bißchen Zeit zum Jagen, Fischen oder sogar Falkenabrichten in einem Tal am Kalu oder in den Bergen um Kabul — vorausgesetzt, die Stämme waren gerade friedlich. Ein besonderer Berg nun hatte schon seit geraumer Zeit meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er lag ziemlich in der Mitte des Hindukusch und war an seinem höchsten Punkt — wie der Atlas behauptete — etwa siebentausendeinhundertdreißig Meter hoch. Ich hatte schon verschiedentlich versucht, ihn zu ersteigen, doch waren entweder die Stämme unruhig oder der Schnee war zu tief oder die in Frage kommenden afghanischen Stellen hatten sonst was dagegen gehabt. Endlich schaffte ich es, den Premierminister davon zu überzeugen, daß alle Umstände »okay« seien, und erhielt tatsächlich die Erlaubnis. Freilich nur unter der Bedingung, daß ich eine Abteilung Soldaten und einen seiner eigenen Geheimpolizisten als persönliche Leibwache mitnähme. Die Soldaten waren immer eine große Plage, da sie die ungezogene Angewohnheit hatten, in allen Dörfern, in denen wir anhielten, sämtliche vorhandenen Enten und Hühner zu stehlen, was mich wiederum zwang, den beraubten Dörflern üppige Rechnungen zu bezahlen, ehe sie sich dazu herbeiließen, mich durch ihre Jagdgründe zu führen. Doch der Premierminister beharrte auf seiner Forderung, und mir schien, es sei die letzte Chance für einen Besteigungsversuch des »Duschmani-Man«-Berges (was nach meiner Privatversion des Kabuler Persisch »Mein Feind« heißen sollte). So brach ich also, gefolgt von einem Lastauto voller Soldaten, in einem Panzer-Spähwagen auf. Unterwegs verbrachten wir einen Tag auf einem kleinen Berg, der besonders reich an schönen Steinböcken sein sollte. Nach zwölf Stunden erschöpfenden Herumkletterns jagten wir jedoch nur eine Herde mickriger Bergschafe auf, die das Pulver nicht lohnten. Also kraxelten wir die Abhänge wieder hinunter bis zur Straße, wo wir Autos, Soldaten und Leibwache zurückgelassen hatten, und fuhren zwanzig oder fünfundzwanzig Kilometer weiter bis zum nächsten Aufstieg auf den »Duschmani Man«. Das Auto mit dem größten Teil der Soldaten deponierten wir am Straßenrand und machten uns auf den Weg zum letzten Dorf am Berghang.

Es war schon dunkel, als wir schließlich durch die niederen Lehmmauern traten und die dort versammelten Dorfältesten begrüßten. Sie hatten längst von unserer Ankunft gehört und einen großen Raum im oberen Stockwerk eines ihrer Lehmhäuser für uns frei gemacht. Eine wackelige Leiter führte auf einen offenen Dachgarten, von dem aus man das eigentliche Zimmer betrat. Der Fußboden war mit ein paar kleinen Teppichen bedeckt; mitten im Raum stand ein Dreifuß für Holzkohlenfeuerung, in dem aber keine Holzkohlen, sondern nur einige feuchte Zweige glommen und einen dicken, ätzenden Qualm produzierten, der in schweren Schwaden unter der Decke hing.

Kaum hatte ich meinen Schlafsack in einer Ecke ausgebreitet und im winzigen Feldkocher etwas Tee gemacht, als auch schon die Dorfältesten zu ihrem feierlichen Antrittsbesuch erschienen. Eine halbe Stunde diskutierte ich in meinem ziemlich lahmen Persisch ihre Probleme: den Zustand der Dorfschule, die zahlreichen Krankheiten, die unter den Bergstämmen wüteten, das Wachstum des Getreides und die Tüchtigkeit des örtlichen Regierungsvertreters. Dann erhoben sich die Ältesten, beteten zu Allah um einen glücklichen Aufenthalt für mich und zogen sich zurück. Sie waren knapp draußen, da marschierten die Jäger des Dorfes, die ich hatte zusammenrufen lassen, herein und hockten sich längs der mir gegenüberliegenden Wand nebeneinander hin. Es waren elf, und sie sahen gefährlicher, grimmiger und finsterer aus als alles, was ich bisher gesehen hatte. Ihre dunklen Gesichter waren von wilden schwarzen Bärten bedeckt, die nur einen Schlitz für den Mund und von jeder Backe einen kleinen Flecken frei ließen, über dem die großen blauen Augen aufblitzten. Langes, wirres, schwarzes Haar reichte ihnen bis über die Schultern. Jeder von ihnen trug einen altertümlichen Vorderlader, den er beim Hinsetzen neben sich an die Wand lehnte.

Ich erklärte, daß ich am nächsten Morgen auf dem großen Berg Steinböcke zu suchen wünsche. Augenblicklich wurden elf zottige Köpfe geschüttelt: »Nein!« Der Berg sei für Talbewohner viel zu gefährlich! Und überdies, sagten sie, auf meine Hauspantoffeln weisend, hätte ich nicht die rechte Fußbekleidung. Ich durchwühlte meinen Rucksack und beförderte ein Paar Kletterstiefel zutage. Sie wurden rundgereicht und sorgfältig examiniert. Schließlich einigte man sich darauf, daß sie zum Klettern ziemlich gut seien, wenngleich bei weitem nicht so gut wie ihre Sandalen. Trotzdem aber stünde es für einen »Kabuli« wie mich ganz außerhalb des Möglichen, den Berg zu ersteigen, sagten sie. Er sei sehr steil, und selbst wenn sie wollten, könnten sie mich nicht tragen. Zum Gehen aber sei ich natürlich nicht stark genug. Ich setzte ihnen mühsam auseinander, daß das meine Angelegenheit sei, daß ich manch einen Berg bestiegen hätte und mich gerade augenblicklich in bester Trainingskondition befände. Nach weiteren dreißig Minuten heftigen Hin und Hers waren die Jäger seufzend einverstanden, es wenigstens zu versuchen, obschon sie immer noch bezweifelten, daß ich das Hochplateau, auf dem Steinböcke grasten, erreichen würde.

Ich erkundigte mich nach dem Anführer, der die Tour vorbereiten, den Weg aussuchen würde und so weiter. Die elf sahen einander an und wechselten murmelnd ein paar Worte. Dann wandte sich einer an mich und erklärte, in ihrem Dorf seien alle Männer gleich viel wert. Anführer gebe es nicht. Ich bewundere zwar die Demokratie ihres Kommunalwesens, erwiderte ich, fände sie jedoch etwas unpraktisch, wenn eine Jagd organisiert werden sollte. Nach längerem ergebnislosem Palaver wandte ich mich an einen, der etwas entschiedener aussah als die anderen, und sagte energisch, daß er für den bevorstehenden Jagdausflug der Anführer sein solle, ganz gleich, ob er es gern sei oder nicht. Er weigerte sich zunächst, doch schienen die anderen mit meiner Wahl einverstanden zu sein, und nach kurzem Umschmeicheln und Beschwatzen nahm er den Posten auch an. Zehn Minuten später waren alle Arrangements getroffen. Eine Fünfergruppe (zu der ich gehörte) würde im Hauptteil aufsteigen, während zwei Vierergruppen die rechts und links anschließenden Seitentäler und Bergkämme ersteigen und das Wild auf uns zutreiben würden. Wir sollten pünktlich um drei Uhr morgens aufbrechen (neun Uhr abends war es jetzt schon) und an der Baumgrenze, wo die Abhänge für nächtliche Kletterversuche zu steil wurden, die Dämmerung abwarten.

Die Jäger standen auf, warfen sich die Vorderlader nachlässig über die Schultern und baten in gemeinsamem Gebet Allah um eine gefahrlose und erfolgreiche Expedition. Als sie hintereinander zur Tür hinausmarschierten, hielt sie der von mir gewählte Anführer noch einmal zurück:

»Denkt daran, Brüder«, warnte er sie, »daß der morgige Tag eine harte und gefährliche Arbeit bringt. So haltet euch heute vom Harem fern!« Sie grunzten zustimmend und verschwanden in der Dunkelheit.

Als sie fort waren, stellte ich meinen Wecker und kroch für ein paar Stunden in meinen Schlafsack.

 

Als der Wecker rasselte, stieg ich in meine Stiefel, rührte etwas Büchsenkaffee an und kaute mechanisch an einem Stück flachen, laffen, ungesäuerten Brotes herum. Neben mir schlief meine »Leibwache« noch friedlich den Schlaf des Gerechten. Ich rüttelte ihn wach und forderte ihn auf, sich gefälligst zu beeilen. Er sah mich ungläubig an:

»Ich? Das gefährliche Gebirge ersteigen? Teufel, nein! Ich warte hier unten auf Sie. Aber nehmen Sie sich bitte in acht, denn wenn Ihnen was zustößt, läßt mich der Premierminister aus ‘ner Kanone zu Tode schießen!« Nachdem er dieserart seine Pflicht erfüllt hatte, rollte er sich auf die andere Seite und schnarchte weiter.

Drunten im Hof waren die Jäger schon versammelt, als ich die Leiter hinabstieg. Wenige Minuten später stapften wir schweigend über den Berghang auf das gewaltige dunkle Massiv zu, das sich aus dem Sternenhimmel drohend auf uns zuzuneigen schien. Es war fast sechs Uhr, als die Gruppe am Eingang einer breiten, felsigen Bergrinne anhielt, die ganz steil auf den Gipfel hoch über uns zuführte. Meine Begleiter liefen ein paar Augenblicke auf und ab und sammelten dürre Äste und trockene Dornenranken. Bald schon saßen sie mit untergeschlagenen Beinen um ein hellflackerndes Feuer, das ihre hageren dunklen Gesichter bizarr beleuchtete.

»Wie lange noch bis zur Dämmerung?»fragte mich einer. Nur ich hatte eine Uhr.

»Vielleicht zehn Minuten«, sagte ich.

Fünf Minuten verstrichen langsam. Außer dem Knistern der trockenen Zweige und Dornen war kein Laut zu hören. Dann sah mich mein Nachbar wieder an: »Sie haben gesagt zehn Minuten — aber dreißig sind schon vergangen. Geht die Uhr da richtig?«

Ich versicherte ihm, sie gehe ganz genau, und es seien tatsächlich erst fünf Minuten vorbei. Doch die Stammesbrüder glaubten mir augenscheinlich nicht und begannen seltsame Blicke zu tauschen. Viertausendfünfhundert Meter über der Welt inmitten von elf wilden Gebirglern zu sitzen war kein beneidenswerter Zustand. Ich muß gestehen, daß mir ein etwas unangenehmes Gefühl den Rücken hochkroch. Tröstlich war nur der Gedanke, daß es sie nicht nach meiner Uhr gelüstete.

Und dann brach schließlich die Dämmerung an. Wir warfen uns das Gewehr wieder über den Rücken und kletterten die Rinne hoch. Der dämmernde Himmel war klar, und mir schien, wir würden einen idealen Jagdtag bekommen. Die einheimischen Jäger aber zogen prüfend die Luft ein und schüttelten mißmutig die Köpfe. »Schnee«, brummten sie.

Zwei Stunden und länger arbeiteten wir uns mühsam über Felsbrocken und lockeres Geröll hoch. Man konnte nur langsam klettern, aber da wir keine Rastpausen einlegten, machten wir trotzdem ganz beachtliche Fortschritte. Der Einstieg in die Schlucht unten war schon nicht mehr zu erkennen, und die Siebentausendfünfhundert-Meter-Spitze kam sichtlich näher. Zwischen ihr und uns lagen die flachen Hochebenen. Als wir sie mit dem Feldstecher absuchten, entdeckten wir eine kleine Steinbockherde, die sich langsam auf die nächste Rinne zubewegte. Und dann ertönte urplötzlich ein lauter Donnerschlag, und einen Augenblick später begann es in dicken, schweren Klumpen zu schneien. Der Anführer stoppte und wandte sich an mich:

»Möchten Sie nicht lieber umkehren? Diese Sorte Schnee ist gefährlich. Zudem werden Sie kein Wild mehr sehen.« Aber wir waren schon so weit gegangen, und die Hochflächen mit ihren Steinböcken schienen so nah vor unseren Blicken zu liegen, daß ich nicht das Herz hatte, umzukehren. So kämpften wir uns also eine weitere halbe Stunde gegen das stärker werdende Schneetreiben vorwärts. Mittlerweile waren wir so hoch gestiegen, daß sich der Sauerstoffmangel empfindlich bemerkbar machte. Alle halbe Dutzend Schritte mußte man stehenbleiben, um Luft zu schöpfen. Als ich wieder einmal schweratmend dastand, wandte sich der Führer erneut an mich:

»Sollen wir aufhören? Es gelingt Ihnen jetzt doch nicht mehr.«

Ich schlug vor, daß wir uns ein paar Minuten unter einer überhängenden Felsplatte ausruhen und die Geschichte kurz durchsprechen sollten.

Irgendeiner fand sogar ein bißchen trockenes Buschwerk unter dem Schnee, so daß wir ein winziges Feuerchen anzünden konnten. Der Felsüberhang gewährte uns einigen Schutz, doch außerhalb der Rinne brauste ein wilder Schneesturm den Abhang entlang. Während wir ihn noch beobachteten, drang aus der Rinne unter uns ein dumpfes Poltern herauf. Einen Augenblick später schwoll es zu donnerndem Getöse an. Die Jäger schienen auf der Stelle anzufrieren. Einer sah den anderen an.

»Lawine«, sagte endlich einer und trat vorsichtig aus dem Schutz der Wand in den wirbelnden Schnee. Sofort kam er zurück. »Ungefähr fünfhundert Meter unter uns«, meldete er knapp, »sie hat die ganze Schlucht verstopft.«

Ich sah den Anführer fragend an.

»Gut«, meinte er achselzuckend, »jetzt brauchen wir keine Entscheidungen mehr zu treffen. Wir werden weitergehen und den Rücken da vor uns überqueren müssen, um in die nächste Rinne zu gelangen. Da können wir dann absteigen, wenn sie nicht auch von einer Lawine verschüttet ist.« Ohne länger Zeit zu verlieren, machten wir uns wieder auf den Weg. Mittlerweile reichte uns der Schnee bis zu den Hüften. Bei jedem Schritt mußten wir eine kleine Pause einlegen, ehe wir den Fuß vorzogen. Ich hatte einmal gehört, daß Lawinen durch Geräusche verursacht werden können, und sowie nur einer versuchte, den Mund aufzumachen, sah ich ihn wütend an.

Eine weitere Stunde mühevollen Stapfens brachte uns an den letzten Bergrücken, über den die Steinböcke verschwunden waren. Auf der anderen Seite konnten wir, wie die Jäger erzählten, mit dem Abstieg beginnen. Der vor uns liegende Abhang war nicht sehr hoch — vielleicht zweihundert Meter — , aber er bildete einen Winkel von etwa fünfundvierzig Grad, und der Schnee reichte uns schon bis über die Gürtel. Jeder Schritt erforderte eine lange Pause, um in der dünnen Luft genügend Sauerstoff einzuatmen. Schließlich hatten wir es fast geschafft. Als wir uns dem Kamm näherten, forderte uns der Führer durch Gesten auf, uns zu bücken. »Auf der anderen Seite werden die Steinböcke sein«, flüsterte er. So krochen wir denn die letzten zehn Meter fast auf dem Bauch durch den nassen Schnee. Als wir die Spitze erreichten und langsam die Köpfe hoben, um den Abhang hinabzusehen, war er so leer wie ein blanker Tisch.

Vier, fünf Stunden später waren wir wieder unten am Fuß des Berges angelangt. Beim Schwinden des letzten Tageslichtes erreichten wir das Dorf, von dem wir in der Nacht aufgebrochen waren. Die Dorfältesten und fast die gesamte Bevölkerung eilten zu unserer Begrüßung herbei. Sie waren offensichtlich enttäuscht, daß wir kein Wild heimbrachten, und erstaunt, uns überhaupt wiederzusehen. Sie hatten die Lawine bis hierher gehört, wie sie berichteten, und als wir am Nachmittag nicht wieder zurück waren, vermutet, daß sie uns erwischt hätte. Am glücklichsten von allen war über das Wiedersehen der Leibwächter des Premierministers. »Es war der gräßlichste Nachmittag, den ich je erlebt habe«, sagte er.

»Sie hätten eben doch mitkommen sollen«, erwiderte ich.

 

»Duschmani Man« war mein letztes Anti-Steinbock-Unternehmen. Kurz nach meiner Rückkehr nach Kabul beorderte mich ein Telegramm aus Washington schnellstens nach London, wo ich Sekretär des Sekretariates der Europäischen Beratenden Kommission werden sollte. Es klang nicht gerade nach einer sehr imponierenden Stellung, und London erschien mir nach dem Frieden und der idyllischen Ruhe von Kabul nicht sehr verlockend, doch war ich andererseits nach achtzehn Monaten hinter den Bergen auch wieder damit einverstanden, dem Weltgeschehen etwas näherzurücken.

Meine erste Sorge war, einen Platz im Flugzeug für mich zu belegen. Ich telegrafierte an die Flugkartenstelle und schickte ihr zugleich eine freie Wiedergabe meiner Order, die, wie alle telegrafischen Anweisungen des State Department, »Hull« gezeichnet war. In freilich sehr freier Wiedergabe machte ich daraus »Cordell«. Ob nun die Flugkartenstelle daraufhin annahm, ich sei ein enger Freund des Außenministers, weiß ich nicht, aber ich bekam eine Dringlichkeitsbescheinigung erster Ordnung von Karatschi nach London (was ja auch der Zweck der Manipulation gewesen war).

Die nächste Sorge galt meinem Haushalt, der auch irgendwie auf den Weg geschickt werden mußte. Er umfaßte damals Yang und eine Anzahl der verschiedensten Hunde. Midgets Junge hatten immer wilde Diskussionen heraufbeschworen, doch der Kabuler Wurf war der dramatischste. Vom Augenblick ihres Eintreffens an war die Hündin in Kabul Mittelpunkt des Interesses gewesen. Als besonders fesselnd waren natürlich die Tricks angesehen worden, die sie bei der GPU gelernt hatte. Jedermann im königlichen Palast wollte ein Junges von ihr. Da aber weit und breit kein belgischer Schäferhundrüde aufzutreiben war, ließ ich mich zuletzt überreden, sie dem in diesem Falle Zweitbesten zu vermählen: dem preisgekrönten deutschen Schäferhund des Königs. Die Ehe wurde ein Riesenerfolg. Fünf Junge kamen lebend zur Welt.

Im Handumdrehen erhob sich nun die Frage der Verteilung. Es schien, als ob jedem Prinzen der königlichen Familie ein Welpe versprochen worden sei — entweder vom König oder von mir. Die Gemüter erhitzten sich so beängstigend, daß König Sehir sich hilfeflehend an seinen Onkel, den damaligen Kriegs- und späteren Premierminister Schah Mahmud Khan, wandte und ihn um die Schiedsrichterrolle im Streit bat. Zu diesem Zwecke nun wurde wiederum ich gebeten, in des Ministers großer Audienzhalle zum Tee zu erscheinen und sämtliche Junghunde mitzubringen.

Eine zusätzliche Schwierigkeit ergab sich noch dadurch, daß ich Yang versprochen hatte, den Hund, der mir verbleiben würde, ihm zu schenken. Von den fünf Welpen nun waren vier prächtige, schwarze, wilde Kerle, doch der fünfte war ein trübseliger kleiner Kümmerling mit gelbem Rücken und schwarzem Bauch, Ohren, die ihm jämmerlich vor die Augen kippten, und einer langen, dürren Rute, die in keinem Zusammenhang mit dem übrigen Körperchen zu stehen schien. Der Kümmerling war sich seiner Minderwertigkeit offensichtlich bewußt, denn er spielte nie mit dem übrigen Wurf, sondern drückte sich, Schwanz zwischen den Beinen, scheu in irgendwelchen Ecken herum.

Als der Kriegsminister mich holen ließ, kaufte ich eiligst im Bazar fünf Hundehalsbänder und stopfte Midget mitsamt ihren Jungen sowie Yang in den Wagen. Yang sah schwarz bezüglich der bevorstehenden Prozedur und prophezeite mir ein übers andere Mal, daß ich ihm todsicher den Kümmerling zurückbringen würde. Ich bat ihn, sich zu beruhigen. Sicher würde es mir gelingen, die Sache so zu drehen, daß er einen besseren bekäme. Aber Yang war nicht zu überzeugen.

Wir kamen vor dem Palast an, und die Welpen stolperten aus dem Auto. Im selben Augenblick rissen alle fünf neuerstandenen Hundehalsbänder zugleich, und fünf wilde kleine Hundeteufel spritzten nach allen Himmelsrichtungen auseinander. Sofort machte sich die Hälfte der afghanischen Armee an die Verfolgung. Unglücklicherweise stellte der Garten um den Palast eine Art vergrößerter Fasanerie dar. Stolze, herrliche Pfauen, schillernde Goldfasanen, Schwäne, hochbeinige Reiher und alle nur denkbaren Arten von Luxusvögeln, an denen die königliche Familie sich erfreute, schlenderten gemächlich durch den weiten Park — bis meine Welpen ausbrachen. Als diese endlich umzingelt und notdürftig an den zerrissenen Leinen befestigt waren, hatte mindestens ein Pfau sein Leben und ein Dutzend weitere ihre Schwanzfedern gelassen.

Mit Hilfe der Soldateska gelang es uns schließlich, das Junghundrudel in die Audienzhalle zu befördern. Ich hatte dem Kriegsminister feierlich versichert, sie seien allesamt stubenrein, doch hatten sie nach der aufregenden Eskapade im Garten sämtliche Manieren vergessen. Innerhalb weniger Minuten bedurften die kostbaren alten Buchara-Teppiche des Palastes dringend der Säuberung.

Doch Schah Mahmud machte gute Miene zum bösen Spiel und schlürfte ungerührt seinen Tee, während die von einem halben Dutzend mopbewehrten Lakaien gejagten Welpen sich höchst fragwürdig benahmen.

Gerade als sich die erregten Hundegemüter zu beruhigen anfingen und Midget ihre Nachkommenschaft energisch zur Ordnung rief, öffnete sich die Tür, und des Königs prachtvoller Schäferhund, der stolze Vater dieses hoffnungsvollen Wurfes, fegte fröhlich bellend herein. Nun sind aber Hundeväter bei ihren säugenden Gattinnen höchst unbeliebt. König Sehirs Rüde bildete keine Ausnahme. Midget stürzte sich wie eine Tigerin auf ihn, und innerhalb fünf Sekunden war die eben erst friedlicher gewordene Audienzhalle Schauplatz eines wirbelnden, wütenden, keuchenden Hundekampfes. Doch Schah Mahmud war nicht umsonst Kriegsminister. Ein Händeklatschen, ein paar kurze Befehle — und wieder rückte die Kabuler Garnison eiligst zu unserer Befreiung heran. Es kostete einige Eimer Wasser und ebenso viele übel zerbissene Hände, aber dann waren die Kämpfenden auseinandergerissen, und der Friede zog wieder ein in die Audienzhalle.

Mittlerweile freilich wiesen die Perserteppiche deutliche Anzeichen der erlittenen Strapazen auf, und der Kriegsminister entschloß sich, die Dinge nunmehr beschleunigt zu erledigen. Er teilte mir mit, der König habe ihn beauftragt, den Wurf zwischen dem König selber, dessen Vettern und mir aufzuteilen. Ehe er jedoch endgültige Entschlüsse treffe, möchte ich ihm sagen, welchen der Hunde ich persönlich für den besten halte. Ich wies begeistert auf den gelbrückigen Kümmerling und äußerte die Überzeugung, daß er — trotz seines vorläufig noch wenig einnehmenden Äußeren — vermutlich von allen der meistversprechende sei. Wenn ich bedenke, was ich tatsächlich von der Töle hielt, fand ich meine Rede recht überzeugend und war voll bester Hoffnung, den Köter einem der Prinzen angedreht zu haben. Leider hatte ich die Rechnung ohne den Wirt (das heißt Freund Mahmud Schahs afghanische Gerissenheit) gemacht. Er betrachtete den Kümmerling sorgfältig und ließ dann die Blicke über den restlichen Wurf gleiten.

»Ich stimme Ihnen völlig bei«, meinte er schließlich wohlwollend, »der kleine Bursche sieht wirklich vielversprechend aus! Es ist nicht mehr als billig, daß Sie, als Besitzer der Hündin, den besten Jagdhund bekommen. Nehmen Sie ihn deshalb wieder mit! Als Gegengabe für die anderen haben wir uns entschlossen, Ihnen ein Pärchen afghanischer Windhundwelpen zu schenken.«

Als ich mit dem Kümmerling unter dem Arm die Audienzhalle wieder verließ, stand Yang schon wartend neben dem Auto. Er warf einen Blick auf den Welpen und explodierte: »Was habe ich Ihnen gesagt?« jammerte er anklagend und quetschte sich düsteren Blickes neben mich in den Wagen. Doch der Kümmerling schlug uns ein Schnippchen. Er wuchs sich zu einem kräftigen, intelligenten und bildhübschen Kerl aus.

Als ich nun die Anweisung erhielt, Kabul zu verlassen, hatte ich nicht die leiseste Vorstellung, was ich mit meinem gesamten lebenden Inventar anfangen sollte. Zwar hatte mich der Tod eines Falken und eines Pferdes beraubt, doch liefen im Zwinger immerhin noch ein Dutzend Schäferhunde, Bastarde buntester Färbung und herrenlos gewesene Terrier herum, die sich so oder so während meines langen Aufenthaltes um mich gesammelt hatten. Ich verschenkte soviel wie möglich, vermachte den größeren Rest meinem Nachfolger und behielt nur Midget, ihren Kümmerling-Sohn, der sich zu einem Giganten ausgewachsen hatte, und die beiden Afghanen. Zusammen mit Yang und meinem Gepäck verfrachtete ich sie in einen Lastwagen und schickte sie quer über den Khaiber-Paß nach Peschawar.

Am Abend nahm ich, mit schwerer Grippe und über vierzig Grad Fieber, am Abschiedsessen teil, das mir der Hofminister gab. Gegen Mitternacht wurde ich in etliche Schaffellmäntel gewickelt und in Major Enders’ Jeep festgeschnallt. Dann ging’s auf die lange Reise über die Berge nach Indien hinein. An die Fahrt kann ich mich nicht mehr erinnern, doch weiß ich eines ganz genau: Als wir in Peschawar einfuhren, hatte ich auch nicht die leiseste Spur Fieber mehr. Enders lieferte die Erklärung dafür, als er strahlend verkündete, daß wir mit unseren sechs Stunden Fahrtdauer einen neuen Rekord aufgestellt hatten für eine Strecke, die von den britischen Truppen gewöhnlich in wochenlangem Marsch überwunden wurde, wenn sie in einen ihrer zahlreichen Afghanenkriege verwickelt waren. Aber Enders hatte auch einen Jeep, keine Kamelkarawane.

In Peschawar wurden Yang und ich und die vier Hunde in ein paar Abteile des Karatschi-Expreß verfrachtet. Nach zwei miserablen staubigen Tagen, von denen einer ausgerechnet Weihnachten war, kamen wir in Karatschi an. Jeder, der einmal in Karatschi gewesen ist, weiß, daß es zu jeder Jahreszeit ein heißer, bizarrer Ort ist. Wir aber kamen geradewegs aus dem Winter im Hindukusch und waren entsprechend gekleidet. Als ich meine Streitkräfte draußen um mich versammelte, hatten die einheimischen Wartenden auf dem Bahnsteig allen Grund zum Hinüberstarren. Yang, der die Prozession anführte, trug einen Pelzmantel mit breitem Pelzkragen und einen riesigen spitzen Kosakenpelzhut, den er in Rußland erstanden hatte. In beiden Händen hielt er die Leinen der vier Hunde, die nach zwei Tagen Bahnfahrt mit aller Gewalt zogen und zerrten. Hinter Yang kamen zwei hohe Karrenladungen Gepäck. Ich selber — ebenfalls in Pelzmantel und Biberkappe — bildete die Nachhut.

Bis wir glücklich am Konsulat ankamen, hatte sich ein langer Schwanz Neugieriger hinter uns gebildet — unter ihnen mindestens drei Beamte der indischen Polizei, die fortwährend zu wissen verlangten, wer wir seien und was wir hier wollten.

Im Konsulat aber trafen wir einen alten Freund, Ed Macy, den amerikanischen Konsul, der der Polizei versicherte, wir seien ganz bestimmt nicht die Vorhut der russischen Armee. Glücklicherweise war Ed außerdem auch noch Hundeliebhaber und versprach mir, sich der tierischen Abteilung meines Haushaltes so lange anzunehmen, bis sich irgendeine Beförderungsmöglichkeit in die Staaten für sie fand. Am nächsten Morgen schon nahm ich ein Flugzeug nach London, wohin Yang mir kurz nachher per Schiff folgte. Der in Indien zurückgebliebene Teil meiner Habe hatte Pech. Midgets Sohn bekam wenige Wochen nach meiner Abfahrt die Staupe und starb. Die beiden afghanischen Windhunde wurden in einen Zwinger hoch in den Bergen gebracht, wo sie warten sollten, bis ich sie zu mir herüberkommenließ. Sie warteten ein geschlagenes Jahr, währenddessen sie einen beträchtlichen Teil meines Gehaltes in Form von kostspieligen indischen Delikatessen auffraßen. Dann aber gehörte ich nach vielen Jahren wieder einmal der Armee an und war in Belgrad bei Tito stationiert. Den Weihnachtsurlaub verbrachte ich in Bari und feierte Silvester mit der Fünfzehnten Luftflotte. Es ging ziemlich hoch her, und ich hielt den Augenblick für günstig, dem Kommandierenden General, Anderson, meine Hundesorgen vorzutragen. Ich setzte ihm also auseinander, daß ich über einem komplizierten Rechenexempel — Hasen und Hunde betreffend — brüte. Der Fall schien ihn zu interessieren, und so fuhr ich fort, ihm zu erklären, ich sei ein begeisterter Anhänger der guten alten Hasenhetze und hätte auch in Serbien schon viele Hasen gefunden, doch befänden sich meine beiden afghanischen Windhunde leider in Indien. General Anderson fand umgehend, daß eine zünftige Hasenhetze ein prächtiger Männersport sei, und empfahl mir dringend, Hasen und Hunde baldmöglichst zusammenzubringen. Das — seufzte ich — sei ja nun gerade die Ursache meines traurigen Brütens. Ich hätte schon die sorgfältigsten Kalkulationen darüber angestellt, wie viele Arbeitsstunden erforderlich sein würden, so viele Hasen zu fangen, daß es sich lohne, sie nach Indien zu verschiffen. Und natürlich hätte ich auch des längeren berechnet, wie viele Arbeitsstunden es erfordere, die Hunde per Flugzeug nach Belgrad zu holen. General Anderson prüfte die Ergebnisse meiner mathematischen Bemühungen gründlichst und meinte zustimmend, sie sähen ganz vernünftig und glaubwürdig aus. Offensichtlich, schloß er nach einem letzten Blick auf die Zahlenreihen, sei es billiger, die Hunde zu transportieren als die Hasen. Und er habe eine Menge Transportflugzeuge, die Kriegsmaterial für die Burmafront nach Karatschi brächten und leer nach Italien zurückflögen.

Die Lösung lag auf der Hand.

Innerhalb weniger Minuten waren die notwendigen Telegramme an den Zwinger in Indien und die übrigen interessierten Stellen abgeschickt, und ich fuhr leichten Herzens nach Belgrad zurück. Aber ich hatte nicht mit der Familie Roosevelt — oder eigentlich nur mit Elliot Roosevelt — gerechnet. Wenige Tage nach meiner Rückkehr bekam ich ein Telegramm von der Fünfzehnten Luftflotte:

»Alles aus!« lautete es. »Sie müssen die Geschichte von Elliot Roosevelts Hund Blaze in »Stars and Stripes« lesen*.« Ich depeschierte an den Zwinger und gab den Auftrag, die Hunde um Himmels willen auf irgendeine Art loszuwerden.

Doch Midget erging es noch schlechter. Fast zehn Jahre lang war sie bei mir gewesen. Sie war mit mir in Zügen, Schiffen, Flugzeugen, Wolgabooten und Autobussen durch Europa, Asien und Amerika gereist. Ja, sie gehörte dem Haushalt mehr und fester an als Yang, der schließlich bloß knappe sieben Jahre in unserem Verein gewesen war. So hatte ich Ed Macy damals gesagt, sie müsse bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die erste sein, die nach Amerika führe. Schon nach knappen vierzehn Tagen erreichte mich in der Londoner Botschaft ein amtliches Telegrammformular, das mir auf dem Dienstwege zugeleitet war. Es lautete:

»Ihre schwarze Freundin heute abgesegelt.«

Darunter stand auf dem Formular, in der Handschrift des Botschafters:

»Hoffe, sie trägt noch einen Sarong.«

Aber Midgets Schicksal war besiegelt. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis ich erfuhr, daß ihr Schiff sechs Stunden vor Karatschi von den Japanern torpediert wurde.

 

Doch das lag vorläufig alles noch in weiter Ferne. Als ich von Karatschi abfuhr, befanden sich meine vierbeinigen Freunde in bester Hut.

Verglichen mit früheren Reisen verlief die jetzige nach London ziemlich glatt.

In London erfuhr ich, daß die Europäische Beratende Kommission unter Botschafter John G. Winant mit den Russen ein Abkommen über die gemeinsame Umgestaltung Europas nach der Befreiung durch die Alliierten ausarbeiten sollte. Ich weiß nicht, wie lange Winant brauchte, unsere Erfolgschancen auszurechnen, aber ich persönlich war schon nach Ablauf eines Monats geneigt, das Ganze für festgefahren zu halten, und mich auf einen anderen für mich in Betracht kommenden Posten zurückzuziehen.

Aber — für mich gab es keinen solchen Posten! Zwei Jahre lang hatte ich in regelmäßigen Abständen im State Department mein Freigabegesuch eingereicht, doch immer hatte das Department mir väterlich erklärt, es kenne mich besser und wisse, daß ich in Zivil nützlicher sei als in Uniform. Und dann traf ich eines glorreichen Tages an der Bar des Claridge Hotels den Brigadegeneral Fitzroy Mac Lean, einen Kollegen aus der Moskauer Zeit, der jetzt Leiter einer anglo-amerikanischen Mission bei Tito war. Fitzroy klagte mir, er habe reichlich genug mit dem englischen Zweig seiner Mission zu tun und wünschte, das Ganze baldigst zu teilen. Ob ich dann nicht der neuen amerikanischen Mission beitreten wolle, falls es ihm gelänge, General Bill Donovan vom OSS*, Außenminister Stettinius und Botschafter Winant von meiner Unentbehrlichkeit zu überzeugen? Das einzige, meinte er beiläufig, was ich können müsse, sei ein »bißchen Fallschirmspringen«.

Stettinius war einverstanden, mir Urlaub fürs Militär zu gewähren, und Donovan, mich zu übernehmen. Als nächstes erhielt ich die Aufforderung, mich zu einer psychotechnischen Prüfung zu stellen. Ich hatte zwar schon mehrfach gehört, daß es bei der OSS eine überdurchschnittliche Anzahl verdrehter Käuze gab, fand es aber reichlich komisch, zu ihrer Ermittlung noch extra einen Haufen Psychologen zu beschäftigen. Mein Einwand stieß auf keinerlei Verständnis. Ungnädig wurde mir mitgeteilt, Zweck der psychotechnischen Prüfung sei die Feststellung, ob ich mich überhaupt den überseeischen Arbeitsbedingungen anpassen könne. Vergebens warf ich ein, daß ich in den letzten zehn Jahren so ziemlich mit der ganzen Welt blendend fertig geworden sei. Niemand könne ohne psychotechnische Prüfung der OSS beitreten, war die einzige Antwort. So meldete ich mich denn eines Tages reichlich ungeduldig in einem Gebäude, das ehemals ein imposantes Stadtpalais gewesen war. Die Ärzte erzählten mir als erstes, mein Name für jenen Tag sei »Jim«. Natürlich rief diese rigorose Maßnahme meinen lebhaften Protest hervor. Ich beharrte darauf, seit unvordenklichen Zeiten einem ausgedehnten Bekanntenkreis als »Charlie« bekannt zu sein und keinerlei Bedürfnis nach einem neuen Spitznamen zu verspüren. Die Doktoren redeten sich aber damit heraus, daß es um meiner Sicherheit willen geschehe und eben niemand außer ihnen zu wissen brauche, wer ich sei. Dann forderten sie mich auf, mit einer Reihe weiterer Patienten an einem Tisch in der Nähe Bridge zu spielen. Ich sagte bescheiden, ich spiele kein Bridge. »Okay. Gehen Sie ‘rüber an den anderen Tisch und spielen Sie Poker.« (Augenscheinlich hielten sie mich ohnehin nicht für einen Intellektuellen.) Ich erklärte, nunmehr sehr energisch, ich spiele auch kein Poker. Sie schlugen Schach vor, dann Dame, doch ich blieb eisern.

»Okay«, meinten sie schließlich gelangweilt, »dann gehen Sie in Gottes Namen ‘rüber und sehen Sie zu, wie die anderen spielen.« Da nun Kiebitzen aber das innerste Wesen aller Diplomatie ausmacht, paßte mir dieser Vorschlag glänzend, und ich akzeptierte ihn voller Enthusiasmus.

Nach der Bridgespielerei stellten sie uns eine Anzahl »Intelligenzfragen«. Die erste lautete: »Wann haben Sie das letzte Mal Ihr Bett naß gemacht?« Ich fauchte voll Wut, sie sollten sich gefälligst zum Teufel scheren, schließlich könne ich das ja heute unmöglich mehr wissen! (Später erzählte mir ein Freund, das sei genau die richtige Antwort gewesen.)

Der Rest des Tages war mit einer Reihe ebenso unbegreiflicher Tests ausgefüllt. Um fünf Uhr endlich versammelte sich die Gruppe zur letzten Übung im ehemaligen Ballsaal des Hauses. Auf dem Parkettboden lag ein Haufen Planken, Seile, Klammern, Stäbe und Segeltuch. Das Ganze sei ein Jungenszelt, wurde uns erklärend mitgeteilt.

»Versuchen Sie mal, wie schnell Sie das Zelt aufstellen können, ohne Nägel ins Parkett zu schlagen«, sagte einer der Doktoren wohlwollend.

In Sekundenschnelle hatte ich meine Jacke abgeworfen und ließ auf meine psychoanalytischen Mitopfer eine Salve von Anweisungen niederprasseln. »Hier, schnapp das Seil! Diese zwei Planken befestigen! Da hinten feste ziehen!« In weniger als zwei Minuten stand das Zelt fix und fertig da. Als wir am Abend das Haus verlassen wollten, bat mich der Oberpsychologe in sein Büro.

»Jim«, begann er, wurde aber prompt von mir unterbrochen: mein Name sei »Thayer« oder höchstens »Charlie«, falls er unbedingt familiär werden müsse.

Der Doktor schaute etwas böse drein und begann von vorn: »Hören Sie mal zu. Sie sind der am wenigsten entgegenkommende Prüfling des ganzen Monats gewesen. Keine Spur von Mitarbeit! Sie wollten kein Bridge spielen. Sie wollten nicht Schach oder Poker oder auch nur Dame spielen. Nicht einmal höfliche Antworten auf höfliche Fragen waren aus Ihnen herauszubekommen. Na schön, das ist schließlich Ihre Sache. Vielleicht kommt Ihnen unsere Arbeit eben reichlich überflüssig vor. Was jedoch keiner von uns begreift, ist, weshalb Sie sich auf unsere Aufforderung hin, mitten im Ballsaal dieses alberne Jungenszelt zusammenzusetzen, kopfüber in fieberhafte Tätigkeit stürzten und das Ding in Rekordzeit auf stellten.«

»Doktor«, erwiderte ich, mich in die Brust werfend, »Sie vergessen, daß ich 1923 Ost-USA-Pfadfinder-Jugend-Zeltbau-Champion gewesen bin! Meine kleine Vorstellung heute nachmittag ist, verglichen mit der vor zwanzig Jahren in Swarthmore, überhaupt nichts! Das hätten Sie sehen sollen!«

Wie mein psychologischer Test bewertet wurde, habe ich nie erfahren, aber ich kann’s mir denken. Donovan muß das irgendwie übersehen haben, denn schon wenige Tage später wurde ich mit einer Uniform, Majorsachselstücken und abermals einem neuen Spitznamen versehen und angewiesen, mich auf der Fallschirmjäger-Schule zu melden. Dort hüpfte ich bald munter aus den Fenstern des zweiten Stocks, wälzte mich fröhlich in schmutzigen Sandhaufen oder bemühte mich redlich, langwierigen Ausführungen zu entnehmen, wie man seinen Fallschirm hinter der feindlichen Kampflinie vergräbt.

Und dann saß ich eines Nachts zusammengekauert in einem umgebauten britischen Bomber, der irgendwo über Nordengland seine Kreise zog. Alle meine Mitschüler waren bereits durch ein Loch im Boden verschwunden. Meine Tagesabsprünge hatte ich schon absolviert, und dies sollte nun die endgültige Nachtprüfung sein. Jeder erfolgte Sprung hatte meine an sich schon schlechte Meinung über die Fallschirmspringerei nur noch verschlechtert, und meine Moral ließ rapide nach.

Neben mir im trüben Dämmer des Flugzeugrumpfes machte der Absetzer die Reißleine an meinem Fallschirm fest und zeigte mir das Ganze.

»Da müssen Se ‘runter«, sagte er in seiner greulichen Londoner Sprechweise.

Ich schaute nach dem Rand der Luke und gab mir Mühe, nicht in die Tiefe zu blicken, ich fürchtete, schwindlig zu werden.

Der Absetzer murmelte einige belanglose Trostworte. »Sehen Se ruhig hin«, redete er mir gut zu, »is nich sehr tief.«

Mit Wonne hätte ich ihn im Genick gepackt und aus dem Loch geworfen, wenn ich nicht so verdammt viel damit zu tun gehabt hätte, mich mit dem komischen Gefühl in meinem Magen zu beschäftigen.

»Fertigmachen«, befahl der Londoner.

Ich schwang die Beine in den Schacht und arbeitete mich bis an den Rand des Loches vor.

An der Wand neben mir flammte ein rotes Licht auf.

Die Dauer der nun folgenden Wartezeit hätte ich, grob geschätzt, auf drei Tage veranschlagt. Jedenfalls gab sie mir reichlich Gelegenheit zu einem umfassenden Überblick über meine Vergangenheit. Fünfzehn Jahre zuvor hatte die Regierung es übernommen, mich zu erziehen. Vier Jahre lang hatte ich mich tapfer mit der Militärkunst herumgeschlagen. Elf weitere Jahre hatte ich alles nur Erdenkliche über Paßkunde und internationales Recht gelernt. Die Gastronomie dreier Kontinente hatte meine Verdauung ruiniert. Ich hatte — auf Kosten unzähliger Spitze und Kater — die Stärke etlicher Dutzend Nationalgetränke ausprobiert. Ich hatte an den Ablativen, Konjunktiven und dem Vokabular eines halben Schocks fremder Sprachen herumgewürgt. Ich hatte die internationalen Beziehungen zu ebenso vielen fremden Ländern untermauert. Ich hatte gelernt, für mein Vaterland Ponys zu trainieren, Hunde stubenrein zu machen und Seelöwen beizubringen, »Stille Nacht« auf der Mundharmonika zu spielen. Ich war Klempner, Impresario und Alteisenhändler gewesen — ja, ich hatte selbst den Unrat einer Botschaft in einer finster-fürchterlichen Nacht entfernen müssen.

Und jetzt — wohin sollte das alles jetzt führen?

Ich schielte durch das Loch auf die tief unten blinkernden, bläulich-trüben Lichter des Landegeländes.

Das Licht neben mir flammte grün auf.

Der Absetzer brüllte: »‘raus!«

Und ich sprang.